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Der Untergang des Abendlandes: Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte

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Beck, München, (1919)

Abstract

Kulturphilosophisches Werk von Oswald Spengler, erschienen in zwei Bänden 1918 und 1922. Spenglers Hauptwerk ist mehrdeutig: Ausdruck seiner Persönlichkeit, der Wilhelminischen Ära und der allgemeinen Krise des abendländischen Bewußtseins. Spengler stand zeitlebens zwischen Kultur und Zivilisation, Bürgertum und Boheme, Angst und Anspruch. Die Kontrastehe seiner Eltern trug dazu bei, der Pietismus der Franckeschen 'Latina', das Studium der Naturwissenschaften und Philosophie in München, Berlin und Halle (abgeschlossen 1904 mit einer Dissertation über Heraklit), der Darwinismus Ernst Haeckels und die Als-Ob-Philosophie Hans Vaihingers (1852-1933), zuhöchst die Kulturkritik Friedrich Nietzsches - in Haßliebe der Untergangsmusik Richard Wagners vermählt -, die dem Zeitalter Dekadenz vorwarf und Befreiung durch den Willen zur Macht erhoffte. Polarstern an Spenglers Bildungshimmel blieb Johann Wofgang von Goethe (1749-1832); verwandt empfand er dessen 'lebendige Natur', Intuition der Phänomene, organische Entwicklungsidee und vergleichende Morphologie. Um frei wirken zu können, schied Spengler 1911 aus dem Hamburgischen Gymnasialdienst und lebte bis zu seinem Tod in München. Zum Dichter fühlte er sich berufen. In zahlreichen, bisher unveröffentlichten Entwürfen und Fragmenten - darunter Tragödien der Kulturwenden und ein Zivilisationsroman - nahm er, gleichsam in einem poetischen Organismus, seine Gesamtschau der 'Welt als Geschichte' vorweg: Schöpfertum ist der Epoche versagt; ihr bleibt politische Bewährung und der historische 'Blick über die Kulturen hin ... wie über die Gipfelreihe eines Gebirges am Horizont'. Poetik, Politik und Historik bilden in Spengler eine unauflösbare Trias. Der Versuch, das Nur-Dichterische zu übersteigen, führt im Untergang des Abendlandes zu einem Werk eigener Art. Kairos dieses Unternehmens ist die Agadir-Krise 1911. Spengler deutet sie als Auftakt einer Epoche der Kriege, vergleichbar dem Führungsstreit im hellenistischen Staatensystem von Hannibal bis Caesar. Wie dort ein Imperium Romanum, soll hier ein Imperium Germanicum die Ökumene der zur Zivilisation übergehenden Kultur zusammenfassen: Die Preußen sind die Römer des Abendlandes. Schon 1912 wählt Spengler (inspiriert durch Otto Seeck (1887-1907) Geschichte des Untergangs der antiken Welt, 1895-1921) den alarmierenden Titel seiner Schrift. Der erste Band, 1917 vollendet - er soll einem deutschen Sieg die Aufgabe weisen -, erscheint 1918 zur Stunde der deutschen Niederlage. Das Mißverständnis des Titels löst große Breitenwirkung aus; den gelehrten 'Streit um Spengler': eigenwüchsige Geschichtskonzeption, Abkehr vom Fachdenken, kühne Analogien und Zuordnungen, dazu eine Sprache, bildkräftig, herrisch, herausfordernd; schließlich die Erhebung dieser eingestandenermaßen subjektiven Weltanschauungsdichtung zur symbolisch notwendigen Philosophie der Zeit, nonchalantes Einbekennen möglicher Widersprüche und Appell ausschließlich an das Gericht der Tatsachen. Der zweite Band (1922) ergänzt den ersten durch metaphysische Spekulation, Ausführungen zu Staat, Wirtschaft und Technik und die Theorie der Pseudomorphosen. Das Werk, als Ganzheit betrachtet, verquickt Anamnese der Kulturen. Diagnose der Zivilisation und imperativisch getönte Prognose. Absicht ist die Vorausbestimmung der abendländischen Großgesellschaft, der einzigen noch lebenden - sieht man von der werdenden russischen ab - der acht Hochkulturen: Ägypten, Babylon, Indien, China, 'apolinische' Antike, 'magische' Arabische, Mexikanische Kultur und 'faustisches' Abendland. Diese Kulturen, Subjekte der Weltgeschichte, sind Organismen vergleichbar, jede 'grundlos' und von 'erhabener Zwecklosigkeit'; alle von gleichem Rang, gleicher Lebensdauer eines Jahrtausends und gleicher Ablaufsgesetzlichkeit. Jede erhebt sich aus dem Formenchaos einer Vorzeit, erwacht zu eigener Religion, durchläuft Frühzeit (Dorik, Gotik), Reifungskrise (Dionysik, Renaissance), Spätzeit (Ionik, Barock), Alterungskrise (Sophistik, Aufklärung) und geht nach Entfaltung, Rationalisierung und Verwirklichung ihrer im 'Ursymbol' angelegten Möglichkeiten in die Zivilisation über, deren Dauer von der Schaffung einer imperialen Schutzordnung abhängt. Die Lebensphasen oder Epochen der Kulturen sind 'gleichzeitig', ihre Ursymbole verschieden. Kultur ist Religion, Zivilisation Irreligion. Jede Kultur hat ihre eigene Zivilisation: die Antike den Stoizismus, das Abendland den Sozialismus. In der Endzeit des Cäsarismus reprimitivieren sich die Massen (Fellachen) und flüchten in eine 'zweite Religiosität'. Zwischen den Kulturen gibt es keine Verständigungen oder Übergänge; Rezeptionen und Renaissancen sind Fiktionen. Spengler scheidet das Christentum der arabischen strikt von dem der abendländischen oder der russischen Kultur. Wohl aber kann eine reife Kultur eine erst aufblühende überlagern, so daß die junge Seele eine ihr nicht angemessene Truggestalt, die Pseudomorphose, annimmt, die sie in einem Akt der Bewußtwerdung abwirft: die spätantike Pseudomorphose der arabischen und die 'petrinische' Phase der russischen Kultur. Spenglers Folgerungen für die westliche Welt lauten: Um sich der vernichtenden Doppelwirkung der inneren 'weißen Weltrevolution' und der äußeren 'farbigen Weltrevolution' (Jahre der Entscheidung, 1933) zu entwinden, braucht die westliche Welt in der Epoche des Cäsarismus: Technokratie, Imperialismus und Sozialismus. So wird sie zwar nicht Selbstwerdung und Entfaltung der russischen Kultur im künftigen Jahrtausend verhindern, doch die eigene Form in ihrer Ökumene vielleicht für Jahrhunderte bewahren. Spenglers Werk erwies sich als Herausforderung zu schöpferischen Antworten, u. a. bei Christopher Dawson (1889-1970), Arnold Toynbee (1889-1975), Pitirim Sorokin (1889-1968), Philip Bagby. Von bleibender Bedeutung scheinen seine Anregungen zur Kritik des gegenwärtigen Kulturumbruchs, die Verwerfung der Europazentrik und Forderung nach einer Neukonzeption der Universalgeschichte wie die Betonung der Formengemeinschaft der verschiedenen Erscheinungen eines Zeitalters. Unhaltbar sind der philosophische Relativismus, die Gewaltsamkeit der Konstruktionen, die Lehre von der Diskontinuität der als fensterlose Monaden betrachteten Kulturen, deren kommunikative Offenheit zueinander geleugnet wird, und die Verneinung der geschichtlichen Einheit des Menschengeschlechts. Die Editionen aus Spenglers wissenschaftlichem Nachlaß - Urfragen (1965), Frühzeit der Weltgeschichte (1966) - bezeugen, daß Spengler selbst in Überwindung seines klassischen Konzepts unter Modifizierung der Diskontinuitätslehre die anthropologische und historische Einheit der Menschheitsgeschichte gewinnen wollte: Sie ist ihm in diesen von ihm selbst nicht mehr zur Reife ausgeformten Entwürfen ein von der Menschwerdung bis zur Gegenwart in Mutationen und Differentiationen sich entfaltender Prozeß, ein in vier Stufen sich steigernder Aufstand des Menschen ah eines in sich entzweiten, absurden Stücks Natur gegen die Natur, ein Unterfangen, das von seiner Anlage her in jeglichem Teilbereich wie im ganzen künstlich und tragisch, in erhabener Sinnlosigkeit, enden kann. (Kindlers Neues Literaturlexikon, Kindler Verlag, München.)

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