22. Februar 2008, 04:00 Uhr
Von Karl Schlögel
Essay
Generation Marienborn
Mauer, Geisterbahnhöfe, entwürdigende Grenzkontrollen - das alles ist lange her und doch so nah. Die Wende von 1989 hat ein neues Europa geschaffen. Es muss nur noch zusammenwachsen / Von Karl Schlögel
So rasch vergeht die Zeit. Es ist fast unglaublich, dass 1989 schon 20 Jahre zurückliegt - das ist eine Generationenspanne. Es gibt Schüler und Studenten, die nach dem annus mirabilis geboren sind, für die das alles buchstäblich Vorgeschichte ist. Uns, denen, die - wie auch immer - dabei gewesen sind, erscheint es wie gestern. Wer von uns erinnert sich noch daran, dass die U-Bahn in der Zeit, als wir in West-Berlin studierten, Bahnhöfe passierte, die zugemauert waren und an denen Grenzer patrouillierten? Wer weiß überhaupt noch, wo die Mauer genau verlaufen ist? Und wer erinnert sich an einen Polenmarkt an der Stelle, wo heute der neue Potsdamer Platz ist, eine sandige Fläche mit abgestellten Wohnwagen und einer nach nirgends führenden Magnetschwebebahn, Philharmonie und Staatsbibliothek wie Weltraumschiffe in einer Grenzlandschaft?
20 Jahre sind eine lange Zeit, aber auch eine kurze Zeit, wenn man von Langzeitgedächtnis, von longue durée spricht. Ihre Intervalle sind nicht die von Legislaturperioden, von Kanzlern und Kanzlerinnen, sondern eher von Generationen oder sogar Epochen. So wie 1989 ganze Generationenhorizonte sich aufgelöst haben, so sind neue entstanden. Es wäre seltsam, wenn sich mit diesen fundamentalen Veränderungen nicht auch die Erinnerung, unsere Vorstellung von der Vergangenheit ändern würde. Es ist nichts Erschreckendes daran, sondern gerade ein Beleg für die Lebendigkeit eines Geschichtsbewusstseins, dass jede Generation sich aufs Neue ein Bild macht von der Vergangenheit, neue Fragen an die Vergangenheit richtet, sich diese neu aneignet, ja neu aneignen muss. Die folgenden Betrachtungen stammen von jemandem, der bewusst 1986 und 1989 miterlebt hat, dessen prägende Erfahrung von Europa aber die der Grenze war. Ich rechne mich der Marienborn-Generation zu: Es sind jene, deren innere Landkarte von dieser Erfahrung geprägt worden ist: vom Zug, der angehalten und kontrolliert wird, wo die immergleichen blöden Fragen nach Sprengstoff und Schusswaffen gestellt wurden, wo Literatur beschlagnahmt wurde von Grenzbeamten, die selber gerne über die Grenze gefahren wären, wenn sie nur gekonnt hätten.
Die Wende von 1989 hat einen neuen Erfahrungsraum geöffnet. Die Koordinaten, in denen die Generationen nach dem Krieg aufgewachsen sind, haben sich grundlegend verändert. Es gab nicht mehr Ost oder West, sondern etwas dazwischen, das mittlere Europa. Städte, die jahrzehntelang unerreichbar waren, waren plötzlich in die Nachbarschaft gerückt. Landschaften, die man nur aus der Literatur, aus Filmen oder aus der familialen Erzählung kannte, waren mit einem Mal erreichbar. Man konnte sich darin bewegen und umsehen. Mit dieser Öffnung änderte sich fast alles: der Erfahrungsraum, der Aktionsradius, die Urlaubspläne und vielleicht sogar die Lebensplanung. Nun konnte man nach Prag und Krakau zum Studieren gehen, nicht nur nach Montpellier oder Oxford.
Bekanntlich gab es in dem, was bis 1989 Westeuropa hieß, keinen "run" nach Osten. Das Interesse war mäßig, sogar in einem einst geteilten Deutschland. Ganz anders im östlichen Europa. Dort hatte man sich schon immer mehr für das interessiert, was im Westen passierte: für Literatur, Ideen, Moden, vor allem aber Freiheit. 1989 war nun die große Chance, sich selber umzusehen, und sie brachen auf, zu Millionen, zur Stippvisite, zur Bildungs- und Erkundungsreise, zum Studium, dann auch zur Suche von Arbeit. Das östliche Europa holte nach, was ihm so lange vorenthalten war. Eine Explorationsbewegung größten Ausmaßes. Das kann man vom westlichen Europa - auch dies nur ein Hilfsbegriff - nicht sagen. Die Neugier hielt sich in Grenzen, zeitweilig überwogen sogar allerlei Befürchtungen. Und doch blieb nichts, wie es war. Neue Erfahrungen sickern ein, man muss sich neu orientieren. Alles braucht seine Zeit, aber es geschieht unvermeidlich, denn auch "den" Westen als alt vertraute Region gab es so nicht mehr. Das erweiterte Europa ist nicht die alte "EU plus Beitrittsländer", sondern ein Europa, das sich neu zusammensetzt, sich neu vergewissert und anfängt, sich von sich selbst ein neues Bild zu machen. Das neue Europa ist etwas anderes und mehr als nur die Addition von Ost- und Westeuropa.
Europa hat in der halbhundertjährigen Zeit seiner Teilung verschiedene und unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Diese unterschiedlichen Erfahrungen lassen sich nicht einfach und nach Wunsch in einem "gesamteuropäischen Narrativ" zusammenfassen. Das östliche und mittlere Europa war der Hauptschauplatz der Weltkriegs- und Revolutionsepoche, des Dreißigjährigen Krieges und der mit ihm verbundenen und in vieler Hinsicht präzedenzlosen Gewaltentfaltung. Diese Region des Kontinents geriet zwischen die Hauptfronten des europäischen Bürgerkriegs, zwischen Nationalismus und Kommunismus, zwischen deutschen Nationalsozialismus und Sowjet-Kommunismus. Es ist der Hauptschauplatz des Genozids an den europäischen Juden, einer systematischen sozialen und ethnischen Säuberungspolitik, das Aufmarschgelände der größten Kriegsmaschinen und der verbrannten Erde, großer erzwungener Bevölkerungs- und Fluchtbewegungen, und einer Befreiung, die in vieler Hinsicht Ablösung der einen durch eine andere Fremdherrschaft war. Es gibt keinen Punkt auf der Landkarte dieser Region, keine Familie, keine Biografie, die nicht von dieser Doppelerfahrung gezeichnet waren. Es handelt sich um die Kernzone des "Jahrhunderts der Extreme".
Diese extrem verschiedenen Erfahrungen zusammen zu denken, lässt sich nicht im Hauruckverfahren bewerkstelligen, sondern braucht Zeit. Es gibt kein Schema F für den Umgang mit der Geschichte, es gibt kein "deutsches Modell", das manche gerne exportieren möchten, da es Situationen gibt, die ungleich komplizierter sind als der deutsche Fall.
Im Jahre 1989 ist Deutschland in gewisser Weise von Europa eingeholt worden, die Deutschen sind nach dem Ende der Teilung in die Einheit entlassen worden. Ihnen rückt eine Geschichte wieder nahe, und sie rücken in ein Netz von Beziehungen ein, das sie selber zerstört und aus dem sie sich selber herauskatapultiert hatten. Nun lag die ganze Geschichte wieder vor Augen und das Gelände, in dem sie sich ereignet hatte. Da gab es die Geschichte der Zerstörung, aber auch eine Geschichte davor, Jahrhunderte und Generationen, in denen die Deutschen selbstverständlicher und fester Teil des östlichen Europa gewesen waren. Die deutsche Geschichte, die manche als "langen Weg nach Westen" sehen, ist wieder dort angekommen, wo sie sich immer abgespielt hat, im mittleren Europa. Damit kehren auch alte historische Beziehungen in den deutschen Horizont zurück. Es zeigt sich nun, dass es eine Geschichte vor der Katastrophengeschichte gegeben hat, eine Geschichte, die nur wenig bekannt ist und die älter ist als die Nation und der Nationalismus, und eine, die zu studieren sich durchaus lohnt.
1989 war der Beginn einer stürmischen Neu- und Umbewertung der Vergangenheit - der letzten 50 Jahre, manchmal auch der ganzen Nationalgeschichte. In jedem Land ging das auf verschiedene Weise vor sich und umfasste das ganze Spektrum von beherzter und gründlicher Aufarbeitung bis zu Re-Ideologisierungen und neuen Mythenbildungen. Die Auseinandersetzung spielte sich auf vielen Ebenen ab: im Kampf um Denkmäler, Straßennamen, Lehr- und Schulbücher, öffentliche Kontroversen um für das kollektive Bewusstsein zentrale Daten, Jubiläen, Feiertage, die Errichtung von Gedenkstätten und Museen. Fast jedes Land hat hier seine dramatischen Höhe- und Knotenpunkte, seinen Denkmalstreit. Fraglos ging es um Re-Interpretationen des Geschichtsbildes, die fällig waren; ebenso oft ging es aber um veritable Kämpfe um die Deutungshoheit und Meinungsführerschaft. Und selbstverständlich geht es nicht um bloße Fragen der Geschichtswissenschaft und des Geschichtswissens, sondern um Fragen der nationalen oder kollektiven Identität, um die Gültigkeit oder Außerkraftsetzung einer sogenannten Meistererzählung. Der Vergangenheitsdiskurs ist in vielen Fällen nur die verklausulierte und maskierte Form einer aktuellen politischen Auseinandersetzung, ein Stellvertreterkampf, ausgetragen in historischen Kostümen. Das macht sie interessant, relevant, aber auch gefährlich.
Es ist eine Frage der politischen Kultur, auch der Geschichtskultur, des Umgangs mit der Vergangenheit, wie solche Kontroversen ausgetragen werden: sachlich oder polemisch, forciert oder gelassen, ideologisch oder aufklärerisch, pluralistisch oder monolithisch, besserwisserisch oder einer Sache und den Personen gerecht werdend, einfühlsam oder denunziatorisch, nostalgisch oder gegenwartsbewusst. Es ist wie immer der Ton, der die Musik macht.
Es gibt eine Erinnerung, die vergeht: nämlich die aus eigener Erfahrung gespeiste, unmittelbare Erinnerung. Sie stirbt mit den Menschen und wird abgelöst durch ein Andenken und Gedenken, das vermittelt ist. Es kommt die Zeit, da es keine unmittelbare Erinnerung mehr geben wird. Wir, die Nachgeborenen, können die Erfahrungen, die andere gemacht haben, nie einholen. Und es gehört auch zu einer Gedenkkultur, dass sie diesen Unterschied respektiert.
Sich in den Erfahrungshorizont einer anderen Generation hineinzudenken ist nicht Sache eines Crashkurses oder gut gemeinter Ermahnungen, sondern eine Frage von Bildung, Takt, Feingefühl. An einer Erinnerung, die über der Vergangenheit die Gegenwart vergisst, stimmt etwas nicht. Die Zuwendung zu Toten, die nicht getragen ist von der Achtung für die Lebenden, ist unglaubwürdig. Es gibt neben einer allseits bekannten Geschichtsvergessenheit auch deren Pendant - Geschichtsversessenheit, eine Obsession, die den Vorteil hat, dass man der Gegenwart entgehen kann. Es gibt mehr oder weniger gelungene Versuche, eine europäische Geschichte auf einen Blick und meist aus der Vogelperspektive zu entwickeln: Norman Davis, Gert Maak, Tony Judt und andere. Aber solche Zusammenschauen sind doch nicht das, was man sich unter einer integrativen Erzählung, in der die vielen widerstreitenden Erfahrungen aufgehoben sind, versteht. Es kann sie auch nicht geben - vorerst jedenfalls nicht. Eine Erzählung kann nie weiter sein als die Erzähler selbst, und eine wahrhaft europäische Erzählung wird es erst geben, wenn sich so etwas wie ein europäischer Erfahrungshorizont herausgebildet hat, also in nicht absehbarer Zukunft. Das Optimum derzeit wäre nicht eine synthetische, wohl auch nur krampfhaft erzählbare gemeinsame Geschichte, sondern der Versuch, die verschiedenen Erzählungen zu Gehör zu bringen. Das ist schwer genug, fast unmöglich, denn es wäre eine Erzählung von Verletzungen und Kränkungen. Eine Geschichte der Zumutungen, eine Polyfonie der Geschichten, streckenweise dissonant und kakofon. Wenn die Europäer es aushielten, sich diese ihre Geschichten anzuhören, so wäre das mehr, als man derzeit erwarten kann.
Von Europa heute zu reden, ohne von seiner Kraft, Schönheit und Herrlichkeit zu sprechen, wäre ganz falsch und unangemessen; nicht deshalb, weil wir unbedingt ein Happy End brauchten. An Europa zu arbeiten, ohne auch seinen unüberbietbaren Reichtum, seine Unterschiede, Kulturen, Sprachen, Kunstwerke zur Kenntnis zu nehmen, wäre ganz sinnlos. Das 20. Jahrhundert, das Europa so verwüstet und um seine Stellung in der Welt gebracht hat, ist nur eine Schicht. Es ist Zeit, auch die anderen freizulegen. Europa, das nur ein Erinnerungsprojekt wäre, wäre verloren, ein Reservat für alte Leute, eine Art Themenpark und Puppenheim für den globalen Tourismus. Aber jeder, der sich umsieht in Europa, weiß, dass es pulsiert, arbeitet, funktioniert - über die Grenze von gestern hinweg, fast so, als hätte es eine Teilung nie gegeben.
Der Autor lehrt osteuropäische Geschichte an der Universität Frankfurt (Oder). Der Text ist Vorabdruck einer Rede, die er heute Abend zum Auftakt der zweijährigen Vortragsserie "Doppelgedächtnis - Debatten für Europa" in Berlin hält
Mauer, Geisterbahnhöfe, entwürdigende Grenzkontrollen - das alles ist lange her und doch so nah. Die Wende von 1989 hat ein neues Europa geschaffen. Es muss nur noch zusammenwachsen / Von Karl Schlögel