Anspannung und Angst in Zörbig
VON GERLINDE BARTHEL, 12.04.10, 18:38h, aktualisiert 12.04.10, 20:47h
ZÖRBIG/MZ. Es ist schwierig, nach über 60 Jahren, diese Zeit zu Papier zu bringen. Ich werde es versuchen: Es ist Ende Januar, Anfang bis Mitte Februar 1945. In der Langen Straße in Zörbig stauen sich Pferdewagen, aber sie sind anders als unsere - nicht so hoch und länger, später hieß es "Panjewagen". Die waren voll mit Sack und Pack. Auch Leute, ganze Familien saßen auf den Panjewagen. Sie kamen aus dem Osten.
Wir konnten froh sein, in einer Kleinstadt in Mitteldeutschland zu leben. So wohnten wir nicht am Rande von Deutschland wie die Leute in Pommern, Ostpreußen oder auch wie die im Westen im Elsass. Wir brauchten nicht unsere Heimat zu verlassen. Bei uns war alles noch geregelt, so einigermaßen. Die große Schule war umgebaut und seit 1944 als Hilfslazarett eingerichtet. Wir Kinder hatten in der alten Schule, in den Vereinsräumen des "Schlossgartens", in der Orgelbauanstalt Rühlmann und in der alten Schuhfabrik Unterricht. Täglich war Fliegeralarm, auch am Tage. Da mussten wir unter dem Marktplatz in den Luftschutzkeller. Waren wir in der Schuhfabrik, mussten wir in den Park. Dort war auch ein Luftschutzkeller. Und noch einen gab es in den Anlagen der Bismarckstraße, heute Lindenstraße.
In der Schule war das Lazarett eingerichtet. Dadurch gab es dort eine Küche, die spätere Schulküche, und viele Rotkreuzschwestern. Sie brachten heiße Getränke an die Wagen der Flüchtlinge und sicher auch Brote. Viele Wagen machten nur eine Pause und dann mussten sie weiter. Etliche blieben auch im Ort. Alle Bewohner mussten zusammenrücken und jede kleinste Kammer wurde belegt.
Nach jedem Nachtalarm begann der Schulunterricht eine Stunde später. Gab es mehrere Nachtalarme, gingen wir zwei Stunden später. Der Unterricht lief normal weiter bis Freitag, den 14. April 1945. Bürgermeister John hatte angeordnet, dass jeder Haushalt sich morgens in der Zuckerfabrik einen Doppelzentner Zucker abholen kann. Also ging es ganz früh mit den Handwagen hin. An den Bahnschienen der Kleinbahn lagerten viele Leute in gestreifter Kleidung. Als wir nach etwa drei Stunden gegen 10 Uhr von der Zuckerfabrik zurück kamen, war niemand mehr da. Später wurde gesagt, es waren Häftlinge.
Alle Leute waren unruhig, was nun passieren wird, einige hatten schon Panzer auf der Straße von Halle gesehen. Gegen 13 Uhr wurde Fliegeralarm ohne Vorwarnung gegeben und alles verschwand im Keller. Gegen 14 Uhr kamen Tiefflieger, die über unserer Stadt Schwung holten und dann auf den Bahnhof zuflogen. Dort standen Waggons der Bahndirektion von Posen und Frankfurt / Oder, die wurden beschossen. Auch einige Scheunen in Zörbig fielen dem Beschuss zum Opfer. Am alten Friedhof standen einige Neugierige, auf die ebenfalls geschossen wurde. Dann gab es da noch einige Pimpfe und Hitlerjungen sowie einige 18-Jährige, die dachten, sie müssten Zörbig verteidigen. Sie hatten sich in der Radegaster Straße hinter den Bahnschienen verbarrikadiert. Sie bekamen ein Ultimatum, dass, wenn sie sich nicht ergeben, das gesamte Viertel hinter den Schienen dem Erdboden gleich gemacht würde. Die - sie waren fast noch Kinder - haben sich verstreut, einige sind in Richtung Bitterfeld gegangen. Auf Höhe der Kreuzung Sandersdorf haben sich mehrere zusammengeschlossen, fast alle sind gefallen.
Bald eine Woche dauerte es, bis die Amerikaner von Zörbig aus Bitterfeld erreicht hatten. Den ganzen 15. April blieben wir im Keller und dort haben wir auch in der Nacht zum 16. April geschlafen. Am Morgen, es war Sonntag, waren alle neugierig. Mein Vater hatte Geburtstag und wie so üblich, wurde am Tag davor Kuchen gebacken - das heißt, auf das Blech gelegt und dann zum Bäcker gebracht, der den Kuchen dann buk. Genau so haben wir es am Sonnabend gemacht, aber abgeholt haben wir den Kuchen an diesem Tag nicht. Also gingen meine Mutter und ihre Schwester am Sonntag los, um den Kuchen zu holen. Sie schlichen sich über den Bahnhof und dann über den Gartenzaun des Bäckers. Meine Tante, die in der Bäckerei im zweiten Stock wohnte, schaute nach, ob ihre Wohnung in Ordnung war. Auf die Straßen in der Stadt trauten sie sich nicht, denn einige Leute, die sie beim Bäcker trafen, waren aus der Langen Straße auch durch Gärten und Anlagen gekommen und erzählten Horrorgeschichten.
Die Bauern in der Leipziger Straße Knötzsch, Gold, Ida Jahn, Reiche, der Ortsbauerführer war, und im Paradies Ohme - alle hatten Gefangene als Helfer, manche waren aus Polen verschleppt worden. Zwischen Kindergarten Hellerstift und Leschke in der Hohen Straße war ein langes Gebäude, heute Nawroth. Dort wohnten, das heißt schliefen, die "Gefangenen". Nun hieß es beim Bäcker: Die Polen plündern die Geschäfte.
Ab Montag richteten sich die Amerikaner ein. Die großen Nazis wurden verhaftet. Ein Bürgermeister musste her, damit die Ordnung wieder hergestellt werden konnte. In vielen Straßen mussten die Mieter der oberen Etagen ihre Wohnung für die Amerikaner räumen. Das Mobiliar, die Haushaltssachen - alles musste drin bleiben. Aber die Frauen konnten täglich ihre eigene Wohnung für die Amerikaner sauber machen und darauf achten, dass nichts zerbrochen wird.
Meine Tante wohnte bei Bäcker Pernutz in der Bismarckstraße im zweiten Stock. Sie nahm meine Cousine, fünf Jahre, und mich, neun Jahre, immer mit. Die Amerikaner waren sehr freundlich. Am Platz Bismarckstraße / Victor-Blüthgen-Straße stand die Küche der Amerikaner. Wir Kinder bekamen öfter mal was ab. Eines Tages, in der zweiten Woche nach der Einnahme, kamen drei Amerikaner. Sie gingen von Haus zu Haus, kassierten Fotoapparate und Ferngläser ein. Bei uns haben sie eine Rollfilmcamera mitgenommen. Das schlimmste war: Sie warfen vor dem Rathaus alles auf einen Haufen und, wie die Leute erzählten, fuhren mit den Panzern darüber. Also sie vernichteten die optischen Geräte total.
Ansonsten gab es fast keine Übergriffe. Die Fremdarbeiter waren auch nicht mehr im Ort. Die Gefangenen, KZ-Häftlinge, die einen Tag vor der Einnahme an den Bahnanlagen rasteten, kamen wieder. Wo sie in der Zwischenzeit waren, weiß ich nicht. Vermutlich im Saal der Gaststätte "Schwarzer Adler", wo die Partei (NSDAP) bis zum 15. April 1945 ihre Feste abgehalten hatte. Da es vorwiegend Frauen waren und sie keine Kleidung besaßen außer der gestreiften Häftlingskluft, wurde eine Nähstube bei Sattler Werner in der Langen Straße eingerichtet, heute ein leer stehendes Geschäft. Alle Frauen des Ortes, die in der Partei oder in der Frauenschaft waren, mussten einmal Unterwäsche und ein Kleid oder einen Rock und eine Bluse sowie eine Jacke abliefern. Stoffgeschäfte mussten Stoffe geben, daraus wurde Kleidung genäht.
Mitte Juni zogen die Amerikaner ab, die Russen kamen, der Übergang war fließend. Es gab keine Übergriffe. Doch viele Leute, die für die Amerikaner "kleine Fische" waren, wurden nun verhaftet und viele kamen nie wieder. Die Frauen von Verhafteten bekamen nach Jahren, als 1949 / 50 einige entlassene Häftlinge wieder nach Hause kamen, von den Behörden die Aufforderung, ihre Männer oder Söhne für tot zu erklären. Der Rias und das Deutsche Rote Kreuz im Westen gaben Bescheid, wer verstorben war, denn die zurück kamen, hatten Sprechverbot über die Zeit im Lager. Die Russen hatten die Konzentrationslager wieder in Betrieb genommen und die Leute dort eingesperrt.
Im Oktober 1945 begann der Schulunterricht wieder in der alten Schule, was jetzt der Hort ist. Bis zur Schulreform 1946 existierte auch die private Oberschule für Jungs.